Freitag, 3. Dezember 2010

Missbrauch durch Kleriker: Ein System der Vertuschung und Verharmlosung - Nachrichten Panorama - Weltgeschehen - WELT ONLINE

Missbrauch durch Kleriker: Ein System der Vertuschung und Verharmlosung - Nachrichten Panorama - Weltgeschehen - WELT ONLINE


Ein System der Vertuschung und Verharmlosung

Das Erzbistum München und Freising legt den Missbrauchsbericht vor. Es gab fast 400 Fälle seit 1949. Viele Akten wurden vernichtet. Schuldgefühle sind selten.

Die ganze Wahrheit gab es nicht. Das 250 Seiten starke Gutachten zu den Missbrauchsfällen in der Erzdiözese München und Freising wird vorerst nicht veröffentlich. Aber allein schon die siebenseitige Zusammenfassung des Berichts, den Rechtsanwältin Marion Westpfahl im Münchner Ordinariat vorlegte, ist schockierend genug: Wenn es um Verbrechen wie sexuellen Missbrauch ging, herrschte im Erzbistum ein System der Vertuschung und Verharmlosung. Akten wurden vernichtet, homosexuelle Kleriker erpresst.

Münchner Erzbistum legt Missbrauchsbericht vor
Foto: dpa Die Rechtsanwältin Marion Westpfahl übergibt ihr Gutachten zu den Missbrauchsfälle im bayerischen Erzbistum dem Generalvikar Prälat Peter Beer

Desinteresse an den Opfern

Die Täter zeigten selten Schuldgefühle, neigten aber zum Selbstmitleid. Mit am schlimmsten, so Westpfahl, empfand sie aber „die vollständige Nichtwahrnehmung der Opfer“ durch das Ordinariat: „Es herrschte Desinteresse am Tatgeschehen und am Opferschicksal.“

Kleriker
Foto: dapd/DAPD Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx

Dass dieses auch strafrechtlich relevante Fehlverhalten jetzt öffentlich wird, ist für den Münchner Kardinal Reinhard Marx „ohne Alternative“. „Was wir tun, sind wir den Menschen schuldig, die zu Opfern wurden. Wir bitten als Kirche um Vergebung für das, was Mitarbeiter der Kirche getan haben.“

Umfrage

Sind die Missbrauchsfälle ein Grund für den Austritt aus der Kirche?

Mit dem Münchner Missbrauchsbericht geht ein Krisenjahr für die katholische Kirche spektakulär zu Ende. Im Januar wurden die Übergriffe am Berliner Canisius-Kolleg bekannt. Es folgte ein Dammbruch. Immer mehr Opfer aus anderen Einrichtungen meldeten sich, in Bayern unter anderem bei den Regensburger Domspatzen oder im Benediktinerkloster Ettal.

Anzeige

Der Augsburger Bischof Walter Mixa musste auch wegen Misshandlungsvorwürfen seinen Rücktritt anbieten. Münchens Erzbischof Marx profilierte sich dagegen früh als Aufklärer. Das hat besondere Brisanz, weil Papst Benedikt XVI. als Kardinal Josef Ratzinger von 1977 bis 1982 dem Erzbistum München und Freising vorstand.

159 Priester galten als "auffällig"

Generell vermied es die Gutachterin, Details zu nennen, die Rückschlüsse auf Personen zuließen, bei Kardinal Ratzinger machte sie eine Ausnahme. Von ihm fand sie einen Brief an einen delinquenten Priester. Ratzinger forderte ihn darin auf, seine Zwangsversetzung in ein anderes Bistum endlich zu akzeptieren.

Laut Gutachten gab es 365 Fälle von Missbrauch. 159 Priester sind „auffällig“ geworden, wobei damit nicht alle einschlägigen Übergriffe erfasst seien. „Vielmehr ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegt.“ Wegen Sexualdelikten verurteilt wurden 26 Priester, unter ihnen befindet sich kein lebender Diözesanpriester mehr. Andere Misshandlungen durch Priester sind in 36 Fällen nachgewiesen worden.

Außerdem wurden 15 Diakone und sechs Personen unter den Pastoralreferenten, Seelsorgehelfern und Jugendpflegern „auffällig“. Auch die Religionslehrer im Kirchendienst nahmen die Gutachter unter die Lupe. 96 Fälle wurden ermittelt. Ein Lehrer wurde wegen eines Sexualdelikts verurteilt. Ein weiterer Fall sexuellen Missbrauchs sei erwiesen. Es gab keine Verurteilung wegen sonstiger körperlicher Misshandlungen, „obwohl solche nach Auffassung der Gutachter in 24 Fällen erwiesen sind“.

Eine umfangreiche Aktenvernichtung hat stattgefunden

Als Rechtsanwältin Westpfahl im April vom Ordinariat beauftragt wurde, die Fälle sexuellen Missbrauchs in der Zeit von 1949 bis 2009 im Erzbistum zu untersuchen, stand sie vor einer Mammutaufgabe. Sie interviewte nicht nur die Leiter des Priesterseminars, des Schulreferats und die Generalvikare. Sie musste auch 13.000 Akten aus 60 Jahren sichten.

Dabei kam zutage, dass die Dokumente lückenhaft sind. In der Vergangenheit „fanden umfangreiche Aktenvernichtungsaktionen statt“. Deswegen konnten auch die Täter-Opfer-Relationen nicht rekonstruiert werden. Unfähigkeit vermutet die Gutachterin hinter diesen chaotischen Zuständen nicht, eher Absicht. „Schlamperei scheidet bei Aktenvernichtungsvorgängen aus. Das ist Ausdruck einer Grundhaltung“, so Westpfahl.

Dazu gehörte auch ein fehlendes Unrechtsbewusstsein. Über die Sexualdelikte wurde so verharmlosend berichtet, dass es oft nicht möglich war, die Taten zu erfassen. Die Kirche habe sich die Tabuisierung sexueller Themen zunutze gemacht. „Die Vertuschung war erfolgreich“, sagte Westpfahl. Für den „rücksichtlosen Schutz des eigenen Standes“ schreckten die Kleriker auch vor rüden Methoden nicht zurück. Die Gutachterin sprach von „besonderem Erpressungspotenzial“, dem homosexuelle Priester unterlägen: „Das wurde genutzt.“

Dieses System soll nun ein Ende haben. Das Bistum arbeitet an einem Präventionskonzept. „Ich kann nur davor warnen, nach diesen Erfahrungen einfach zur Tagesordnung überzugehen“, sagte Kardinal Marx. Die Kirche müsse ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

Missbrauch an katholischen Einrichtungen

Immer wieder erschüttern Missbrauchsskandale die katholische Kirche in Deutschland. Die wichtigsten Stationen der Entwicklung:

Keine Kommentare: